Spaniens Oberster Gerichtshof äußert sich zur Durchgriffshaftung und wendet sie an

01.02.2022 - Marta Arroyo Vázquez

In Spanien wird die Durchgriffshaftung (levantamiento del velo) zwar in vielen Fällen vorgebracht, jedoch nur selten angewandt. Dieses Mal wurde sie seitens des Obersten Gerichtshofs Spaniens (Tribunal Supremo) in seinem Urteil 673/2021 vom 5. Oktober herangezogen. Auswirkung der Durchgriffshaftung ist das Verschwinden einiger Merkmale der juristischen Person der Kapitalgesellschaft, in der Regel der Haftungsbeschränkung. In diesem Urteil macht Spaniens Oberste Gerichtshof die Gesellschafter für eine offene Schuld der Kapitalgesellschaft haftbar.

Durchgriffshaftung: ein Ausnahmemittel

Es sind gerade die Schwierigkeiten der Anwendung, die dazu geführt haben, dass seit ihrer expliziten Heranziehung durch den spanischen Obersten Gerichtshof im Jahr 1984 diese Rechtsfigur nur selten erfolgreich angewandt wurde. Trotz des kürzlich ergangenen Urteils 673/2021 besteht nach wie vor große Unsicherheit hinsichtlich ihrer Anwendungsvoraussetzungen. Bei der Durchgriffshaftung handelt es sich um ein Ausnahmemittel, dessen Grundlage die Vermeidung des Missbrauchs der eigenständigen Rechtspersönlichkeit einer Kapitalgesellschaft ist. Daher müssen die Umstände, aus denen sich eindeutig dieser Missbrauch ergibt, entsprechend nachgewiesen werden.

Gesetzesumgehung und Rechtsmissbrauch können die Anwendung der Durchgriffshaftung begünstigen

Eben diese „Umstände“ werden jedoch nicht von der Rechtsprechung eindeutig definiert. Einige der klassischen Fälle werden im Urteil 673/2021 zwar zunächst geprüft, aber später ausgeschlossen, da es sich dabei um falsche Gründe handele. Bezug genommen wird dabei auf die Gründe Unterkapitalisierung, externe Geschäftsführung, fiktiver Charakter der Gesellschaft und Vermögensvermischung. Das Urteil erkennt schließlich die Gesetzesumgehung (fraude de ley) und den Rechtsmissbrauch (abuso de derecho) als Kriterium an, das der Anwendung der Rechtsfigur der Durchgriffshaftung zu Grunde liegt. In dem im Urteil des spanischen Obersten Gerichtshofs betrachteten Fall fand die betrügerische Handlung vor der Ausstellung der Eigenwechsel statt. Im Zeitpunkt ihrer Ausstellung verfügte die Kapitalgesellschaft nicht mehr über Vermögen, da dieses bereits unter den Gesellschaftern aufgeteilt worden war. Dies obgleich „die Gesellschaft, welche die Wohnungsentwicklung betrieben hatte, einen offenkundigen – und nachgewiesenen – Gewinn mit dem Verkauf der Wohnungen erzielt hatte und diese Einkünfte verschwunden waren.“ Aus der Darstellung der Tatsachen des Urteils geht jedoch nicht deutlich hervor, was genau die betrügerische Handlung war, die zur Anwendung der Durchgriffshaftung geführt hat, da nicht bekannt ist, was das fehlende Vermögen und somit die Insolvenz begründete. Es wäre beispielsweise möglich, dass die Einkünfte zur Befriedigung anderer Gläubiger oder zur Ausschüttung als Dividenden verwendet worden sein könnten.

Aus unserer Sicht hat der spanische Oberste Gerichtshofs angesichts der Unsicherheit bei der Anwendung der Rechtsfigur der Durchgriffshaftung mit seinem Urteil 673/2021 vom 5. Oktober eine einzigartige Chance vertan, den Fall einer betrügerischen Handlung zu beleuchten, da er nicht klar belegt hat, was die Insolvenz der Gesellschaft begründet hat, die zur Anwendung der Rechtsfigur der Durchgriffshaftung auf die prozessgegenständlichen Tatsachen geführt hat.